Dieser Beitrag ist inspiriert von einem Video von Prof. Bernhard Krötz, in dem er den Niedergang der deutschen Mathematikerziehung und Schulbildung beklagt und der indischen Eliteauslese gegenüberstellt.
Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich schon mit Kollegen, teils Fachmathematiker, teils Didaktiker, beim Mittagessen über die Mathematikausbildung in der Schule diskutiert habe. Dazu kommen noch lange Diskussionen in Treffen wie der Konferenz der Mathematischen Fachbereiche, wo immer wieder dasselbe Thema hochkam. Ein Dauerbrenner.
Eine Lösung haben wir selten gefunden. Es gibt eine Reihe von Professoren, die schlicht die Meinung vertreten, dass die heutige Generation der Abiturienten „nicht studierfähig“ sei. Diese Ansicht ist so undifferenziert und einseitig, dass sie offensichtlich falsch sein muss. Weder kann man eine ganze Generation über einen Kamm scheren, noch scheinen mir die Ergebnisse der Universitätsausbildung in Deutschland oder Europa und unsere industriellen Erfolge und Forschungserfolge auf ein Disaster dieses Ausmaßes hinzudeuten.
Prof. Krötz ist nur ein weiteres Beispiel für einen Mahner vor dem Untergang des Abendlandes. Sein YouTube Kanal scheint aber mit Tausenden von Abonnenten und Hundertausenden von Views pro Video eine große Reichweite zu haben. Offenbar treibt viele dieselbe Furcht um.
Ein Beispiel für diese Erzählungen ist der Vergleich zwischen den Standards in Indien und Deutschland. Detailliert wird im Video über einen Zulassungstest für Universitäten in Indien berichtet. In der Tat enthält dieser Test unglaublich komplexe Aufgaben, die zudem in kürzester Zeit gelöst werden müssen. Die Rate der erfolgreichen Kandidaten ist folgerichtig klein. Hochgerechnet wären unsere Universitäten leer. Aus dem mäßigen Ergebnis der nicht bestandenen Klausuren schließt das Video aber auf eine deutlich höhere Mathematikbildung in Indien als in Deutschland, was ich nicht nachvollziehen kann.
Denn diese Prüfungen werden in harten und wohl auch kostspieligen Kursen präpariert. Die normale Schulausbildung reicht dazu nicht aus, obwohl sie den Umfang von deutscher Beschulung schon weit überschreitet. Mir sieht diese Prüfung eher nach einem Zulassungssieb aus, mit dem der Zugang zu höherer Bildung reguliert wird. Ich bin ziemlich sicher, dass reiche Inder Wege finden, ihre Kinder an privaten Hochschulen oder im Ausland unterzubringen. Das gleiche Bild bietet sich übrigens in China.
Hier liegt der eine Unterschied zu Europa, wo auf Breitenbildung gesetzt wird. Im Extremfall wird wie im Pisa-Sieger Finnland „kein Kind zurückgelassen“. Für eine Volkswirtschaft und Gesellschaft scheint mir das der bessere Weg zu sein. Und der Erfolg der deutschen Industrie sowie des Forschungsstandorts Europa, insbesondere Deutschlands, gibt mir Recht.
Man sollte auch nicht vergessen, dass die in Indien ausgebildete Elite dann ins Ausland, vor allem in die USA geht, um zu forschen. Indien bietet ihnen noch zu wenig. Die dort tätigen indischen Mathematiker sind großartig, ohne Zweifel. Aber sie wären es auch ohne ein solch restriktives System geworden. Ob Indien oder China wirklich auf dem Weg sind, mit Hilfe von Forschung und Bildung den Westen auf dem Gebiet der Wissenschaft zu überholen, darf zumindest im Beispiel von Indien bezweifelt werden.
Im Video von Prof. Krötz wird dann eine Aufgabe oberflächlich vorgerechnet, die auf mich wegen der lebensfremden Aufgabenstellung und gekünstelten Komplexität geradezu lächerlich wirkt. Sie ist außerdem ein typisches Beispiel von „Alles oder Nichts“. Wenn eine der inversen trigonometrischen Funktionen in den zwei 3×3 Matrizen falsch ausgewertet wird, ist die ganze Aufgabe chancenlos. Ich gebe aber zu, dass ich andere Aufgaben ganz ansprechend fand, zumindest für ein Zielpublikum nach ein oder zwei Semester Mathematik.
Ein weiterer Abschnitt des Videos führt die neue Wokeness vor. Offenbar steht im Entwurf des Curriculums für NRW in der Präambel eine kurze und etwas naive allgemeine Formulierung von Bildungszielen, die mit Mathematik wirklich nichts zu tun haben. Derselbe Abschnitt steht aber vermutlich in allen Curricula und ist als politische Präambel zu lesen. Es folgen darauf seitenlang fachliche Inhalte wie in allen anderen Ländern.
Dann geht es weiter mit einer Demonstration des Verfalls der Schulbildung in Mathematik in Deutschland anhand eines Abschlussexamens der Realschule. In der Tat finden sich dort Aufgaben, bei denen auch ich Zweifel habe, ob sie von heutigen Abiturienten gelöst werden können.
Ob daran eine Verschiebung der Inhalte von Geometrie, Rechnen und Algebra hin zu Stochastik und Textaufgaben alleine schuld sind, kann ich nicht genau sagen.
Ich kann aber jedem versichern, dass die Mathematikkenntnisse der Abiturienten früher in der Masse nicht besser waren. Ich bin alt genug und unterrichte lang genug, um das zu beurteilen. Was sich geändert hat ist, dass die Studierenden die Mathematik nicht mehr einfach als nebensächlich, weil irrelevant, abtun können. „In Mathe war ich immer schlecht.“ Wer hat das noch nicht gehört?
Heute sind die Abiturienten Spezialisten für Prüfungen geworden. Nachdem in der Uni alle Module bestanden werden müssen und alle Noten zählen, kann man es ihnen nicht verdenken, dass sie das tun, was getan werden muss, aber nicht mehr. Wir sind in diesem Punkt eher auf dem indischen Weg, also hin zu Leistung und Leistung alleine.
Möglicherweise hat Prof. Krötz so wie ich Studierende anderer Fakultäten in Mathematik unterrichtet und ist einfach nur enttäuscht, dass diese Studierende sich nicht für die Feinheiten der Mathematik begeistern können, sondern das Fach als eines der sechs, sieben Module ansehen, die sie im ersten Semester bestehen müssen.
Ob das Schielen auf die Eliteauslese eines anderen Landes eine Antwort auf die Probleme ist, die unser Schulsystem tatsächlich hat, darf in jedem Fall bezweifelt werden.
Die Auslese in Indien sollte sicher kein Maßstab für uns in Deutschland sein,
aber als Nachhilfelehrer für Mathematik und Physik kann ich bestätigen,
dass das Mathe-Niveau der Schüler / innen in den letzen Jahrzehnten deutlich abgenommen hat.
Physik wird nach meiner Erfahrung bereits in der 10. Klasse des Gymnasiums abgewählt und Mathematik wollen viele gar nicht wirklich verstehen, sondern
nur wie ein Kochrezept anwenden.
( Am Besten KEINE Textaufgaben – obwohl das Leben nur Textaufgaben stellt. )
Fast die Hälfte aller Gymnasiasten nimmt Nachhilfe in Anspruch, viele gehören nach meiner Meinung nicht auf ein Gymansium. Eine Aufnahmeprüfung wie vor Jahrzehnten wäre wieder sinnvoll.
Aber die Eltern ( mein Haus, mein Auto, meine Yacht …. mein Kind auf dem Gymnasium ) erzwingen z. Teil die Gymnasium-Aufnahme über das Verwaltungs-Gericht. Dieses ordnet dann einen 3-monatigen Probe-Unterricht an, aber nach den 3 Monaten hat kein Lehrer bzw. die Schule den Mut, den Schüler / die Schülerin zurückzuschicken.
Textaufgaben waren schon immer ein Problem. Nach Pisa wurden sie zu Recht zum Goldstandard erhoben. Davor hat man ein Schuljahr lang Bruchrechnen geübt, mit sechsstelligen Zahlen. Dass sie jetzt in der Nachhilfe auftauchen, sehe ich positiv. Ob allerdings „in den letzten Jahren“ die Kenntnisse geschrumpft sind, kann ich nicht beurteilen. Man darf die Probleme nicht vergessen: Corona, Lehrermangel, Digitalisierung, Zuwanderung, Hickhack um G8 und G9 usw.
Die deutsche Schule ist nicht optimal, kein Zweifel. Ich bin kein Freund von übertriebener Eliteförderung. Wir brauchen gute Schulbildung für alle. Die Lehrer an den Gymnasien wünschen sich natürlich nur die besten. Aber von Zugangsbechränkungen wären auch die Kinder der besseren Kreise betroffen. Also wird es solche Beschränkungen nicht wirklich geben. Diese Eltern konnten sich übrigens schon immer Nachhilfe leisten. Ich selbst habe in besseren Häusern als Schüler gutes Geld verdient.
Andere Maßnahmen wären denkbar, kosten aber Geld. Relativ sanft wäre ein Probejahr im Gymnasium, für alle natürlich, das eventuell sogar wiederholt werden kann. Die gemeinsame Beschulung über 6 Jahre oder mehr scheitert an der Oberschicht und würde größere Umstrukturierung und Umschulung nach sich ziehen. Danach könnt man aber sicherer entscheiden, welchen Weg Kinder nehmen sollen. Andere Länder machen das gut vor.
Wie dem auch sei, vielen Dank für den Kommentar. Bleiben Sie geduldig mit der Nachhilfe, und beachten Sie immer das Mathe nur eines von vielen Fächern ist.
Hier noch ein Link zum Thema:
https://awblog.at/bildungspolitische-perspektiven/